Ein Bericht aus Italien aus dem Jahre 2000 zum Thema Inklusion und deren Umsetzung in Italien

Auszüge aus Integration von Menschen mit Behinderung – Entwicklungen in Europa, herausgegeben von Maren Hans und Antje Ginnold, erschienen im Luchterhand Verlag, im Jahr 2000

 

S. 9

 

... Die folgenden drei Beiträge führen die Leserinnen und Leser nun nach Italien – einem Land, von dem so viele Anstöße für die Integrationsentwicklung ausgingen und –gehen. Edith Brugger-Paggi beschreibt auf der allgemeinen Ebene die Situation in Italien. Gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten ist rechtlich verankert und weitgehend Normalität geworden. Es wird nicht mehr die Realisierbarkeit und die Notwendigkeit von Integration in Frage gestellt, sondern inzwischen wird an der qualitativen Verbesserung der Praxis gearbeitet. Dazu gehören eine neue Lehrerbildung ebenso wie Fortbildungsangebote für tätige Lehrerinnen und Lehrer, mehr Autonomie für die einzelne Schule, die Überarbeitung der Lehrpläne, aber auch Bemühungen um Vernetzung und Kooperation der unterschiedlichen Professionen und Bereiche. Im Zentrum stehen ein Menschenbild und eine Pädagogik, die auf die Stärkung der Autonomie und Rechte von Menschen mit Behinderung gerichtet sind. Wie sich dies im Alltag auswirkt, stellen Verena und Evi Turin aus ihrer ganz persönlichen Sicht dar. Verena Turin eine junge Frau mit Down-Syndrom beschreibt Szenen aus ihrem Leben, wie sie den Kindergarten, die Schule, das Arbeitsleben und ihre Freizeit erlebte. Sie tut dies in einer sehr eindrucksvollen Sprache. Evi Leimstädtner-Turin schildert Verenas Entwicklung aus ihrer Sicht als Mutter. Es entsteht ein lebendiges Bild, das die sachliche Darstellung mit der subjektiven Wahrnehmung verknüpft.

 

 

S. 163, ff. aus dem Bericht von Edith Brugger-Paggi mit dem Titel Integration von Menschen mit Behinderung in Italien

 

Besonderheiten in der Entwicklung der Integration in Italien

 

Zwischen der Entwicklung der Werthaltungen in der Gesellschaft und der Entwicklung der gesetzlichen Normen besteht ein enger Bezug. In der Regel stehen Wertvorstellungen am Anfang, gefolgt von der Änderung in der Vorstellung über Normen, die letztendlich in gesetzliche Bestimmungen ihren Niederschlag finden. Diese Veränderungen erfolgen jedoch nicht bei allen Gruppenmitgliedern gleichzeitig, oft werden sie von kleinen Gruppen entwickelt und weitergetragen, weshalb die Akzeptanz nicht bei allen im selben Ausmaß vorhanden ist. (vgl. Haug in diesem Band).

 

Die bei uns gesetzlich vorgegebene Integration ist zwar eine förderliche Voraussetzung für die Integration, bestimmt jedoch nicht auch schon die Qualität der Integration, das kooperative Handeln, das integrative Denken, die veränderte Einstellung in den Köpfen. Dies kann nicht per Gesetz verordnet werden. Integration in Italien ist eine politische Entscheidung gewesen, vorangetragen von einer Mitte-Links-Regierung, jedoch mit großem Konsens auch in einem Großteil der Bevölkerung. Studienkommissionen auf parlamentarischer Ebene (Kommission Falcucci 1975) haben sich intensiv mit den pädagogischen Grundausrichtungen und den Rahmenbedingungen auseinander gesetzt. Gefehlt haben hingegen wissenschaftlich begleitete Schulversuche im Bereich der schulischen Integration, die es übrigens bis heute kaum gibt. Eine einzige umfassende Untersuchung wurde im Jahre 1997 auf parlamentarischer Ebene durchgeführt, sie wurde aber auf Grund der zum Teil einseitigen und tendenziösen Fragestellungen und der Schlussfolgerungen vielfach auch heftig kritisiert. Gefehlt hat bisher auch eine Evaluation der Integrationserfahrungen und der Effektivität der schulischen Integration.

 

Ein typisches Merkmal der rechtlichen Bestimmungen bis hin zu Gerichtsurteilen ist sicher die Tatsache, dass die grundlegend pädagogisch ausgerichtet sind, Einstellungen und Haltungen, ein Menschenbild vermitteln, das von der Gleichwertigkeit der Menschen mit Behinderung ausgeht, von ihrem Recht auf Förderung und Entwicklung ihrer individuellen Fähigkeiten im Rahmen eines einheitlichen Schulsystems. Als Beispiel möchte ich einige Auszüge aus einem Urteil des Verfassungsgerichtshofes wiedergeben, das die weitere Entwicklung der Integration besonders in den Oberschulen für Schüler mit Behinderung nicht nur erleichtert, sondern garantiert und zwar auf Grund der Tatsache, dass von wissenschaftlicher Seite nunmehr vielfach nachgewiesen sei, dass keine Menschen mit Behinderung gibt, die nicht rehabilitiert werden können, dass die schulische Integration grundlegende Bedeutung hat für die Rehabilitation. Die Teilnahme am gemeinsamen Lern- und Erziehungsprozess mit Lehrpersonen und normalbegabten Mitschülern ermöglicht jene psychologischen Inputs, die zu einer Verbesserung des Lernens führen, die Beziehungsfähigkeit und die Kommunikation verbessern und so dazu beitragen, die Behinderung zu vermindern. Dieser Prozess darf nicht mit dem Abschluss der Pflichtschule abgebrochen werden, da ein solcher Abbruch einen Stillstand, wenn nicht gar eine Regression in diesem Prozess bewirken könnte. Die schulische Integration hat auch eine bessere Eingliederung des Menschen mit Behinderung in die Arbeitswelt und die Gesellschaft zur Folge und ermöglicht die Ausführung qualifizierter Tätigkeiten. Daher muss der Besuch der Oberschule garantiert werden (Urteil des Verfassungsgerichtshofes vom 03.06.1987).

 

Im Dezember 1999 hat in Rom die erste nationale Konferenz zum handicap (prima conferenza nazionale sull‘ handicap) stattgefunden mit dem Ziel, in umfassender Weise den derzeitigen Stand der Integration von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen Lebensbereichen festzustellen und daraus grundlegende Maßnahmen für die nächste Zeit zu entwickeln. Verschiedene Arbeitsgruppen haben Vorarbeit geleistet, Dokumente vorbereitet, die in der dreitägigen Tagung vorgestellt, in verschiedenen Workshops diskutiert, ergänzt und umgearbeitet worden sind. Mehr als dreitausend Menschen aus verschiedenen Bereichen, direkt Betroffene, Verbände und Vertreter von Institutionen haben gemeinsam daran gearbeitet. Grundlegende Beiträge wurden sowohl vom Staatspräsidenten als auch vom Ministerpräsidenten geliefert; eine beachtliche Anzahl von Ministern arbeitete in den Arbeitsgruppen konkret mit. Die nationalen Medien berichteten ausführlich über diese Tagung. Dies als Beispiel dafür, dass die Integration von Menschen mit Behinderung ein politisches, wirtschaftliches, gesellschaftliches Thema ist, das nicht mehr nur von einigen Outsidern behandelt wird, sondern vielmehr gesellschaftliche Relevanz hat. Die Ergebnisse dieser Tagung wurden in einem Regierungsprogramm zusammengefasst, das die Schwerpunkte der Regierungstätigkeit für die nächsten drei Jahre festlegt. Diese Schwerpunkte beziehen sich auf alle Bereiche, nicht nur auf den schulischen. Hier die wichtigsten Vorhaben (Presidenza Del Consiglio Dei Ministri/Dipartimento Per Gli Affari Sociali 2000, 138 ff.):

 

-  Prävention von Defiziten durch Finanzierung von Forschungsvorhaben zur genaueren  

   Erfassung der Ursachen von Defiziten,

 

-  Sekundärprävention in Form von Frühdiagnosen, Durchführung flächendeckender

   Screenings bei Neugeborenen,

 

-   Verbesserung der Verkehrssicherheit durch entsprechende Maßnahmen,

 

-  Maßnahmen zur Verringerung der Arbeitsunfälle und der Unfälle im Haushalt,

 

-  Verbesserung der Maßnahmen zu Arbeitseingliederung – auch Betriebe mit weniger als

   15 Beschäftigten müssen nun Menschen mit Behinderung aufnehmen; sie erhalten

   entsprechende Unterstützung bei der Arbeitseingliederung und finanzielle Zuschüsse,

 

-  Verbesserung der rehabilitativen Maßnahmen durch Dezentralisierung der Angebote,

 

-  Unterstützung der Familien,

 

-  Schaffung von Strukturen und Initiativen verschiedenster Art, um Menschen mit schweren

   Behinderungen im Erwachsenenalter ein Maximum an autonomer Lebensgestaltung zu

   ermöglichen,

 

-  Abbau architektonischer Barrieren,

 

-  Verbesserung der Zugänge zu den öffentlichen Verkehrsmitteln,

 

-  Finanzielle Erleichterungen beim Ankauf und Umbau behinderungsspezifischer privater

   Verkehrsmittel

 

-  Integrierte Initiativen im Sport-, Freizeit- und im kulturellen Bereich,

 

-  Verbesserung des Zugangs zu den spezifischen Informationen: rechtliche Informationen 

   über spezifische Angebote in den verschiedenen Regionen, Provinzen und Gemeinden,

   über behindertengerechte Verkehrsmittel, Hotels und Freizeitangebote …,

 

-  Zusammenarbeit auf europäische Ebene im Bereich der verschiedenen EU-Projekte

 

 

Die Anliegen der Menschen mit Behinderung zu einem gesamtgesellschaftlichen Anliegen werden zu lassen, dazu hat die schulische Integration sicher einen wesentlichen Beitrag geleistet. Seit über 20 Jahren haben Kinder und Schüler im Laufe ihrer Schullaufbahn Kontakt mit Mitschülern mit Behinderung, sie lernen mit ihnen umzugehen, neue Verhaltensweisen, andere Kommunikationsformen. Dies überträgt sich auch auf das Verhalten außerhalb der Schule, in gesellschaftlichen Kontexten, in der Freizeit und später auch im Arbeitsbereich, Menschen mit Behinderung gehören in Italien zum Straßenbild, wie eben andere Menschen auch (vgl. Leimstädtner-Turin und Turin in diesem Band). Das bedeutet nicht, dass es nicht auch Sonderfälle gibt, die von der Presse bereitwillig aufgegriffen und wirksam dargestellt werden: ein Kind mit Down-Syndrom, das nicht zur Erstkommunion zugelassen wird, ein Mensch mit Behinderung, dem der Zugang zu einem Hotel versagt wird usw. Aber das sind die Ausnahmen, die alltägliche Situation sieht anders aus. Maßnahmen der Integration finden wir in allen Bereichen, ebenso entsprechende Finanzierungen. Und das obwohl es um Italiens Staatshaushalt sicher nicht bestens bestellt ist.

 

Wer wissen möchte, warum Inklusion in Deutschland nicht funktioniert, einmal hier klicken.

Bildquelle: www.pixabay.com
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